The Known Unknown – Veränderte Mediennutzung in Zeiten von Corona
Woche drei im Homeoffice. Aus dem anfänglichen Abenteuer ist fast schon Gewohnheit geworden und viele haben sich sehr schnell an die Ausnahmesituation angepasst. Dass sich in dieser Zeit auch das Mediennutzungsverhalten verändert, ist nicht mehr überraschend und mittlerweile auch mehrfach anhand von rasch umgesetzten Umfragen belegt – der Alltag bestimmt nun einmal den Medienkonsum.
Schaubild: Veränderte Mediennutzung, 25.03.-01.04.2020, Civey
Klassische Mediaquellen halten nicht Schritt mit der Marktdynamik
Die Veränderungen liegen auf der Hand: Es wird wieder mehr ferngesehen. Menschen verbringen mehr Zeit im Internet. Soweit, so gut. War das schon alles?!
Bestimmt nicht. Aber wir stehen vor einer Herausforderung: Viele Quellen, die es uns üblicherweise erlauben, unsere Analysen und Empfehlungen auf eine solide Faktenbasis zu stellen, verfügen nicht über die notwendige Dynamik, der rasanten Entwicklung der letzten Wochen Rechnung zu tragen. So sind beispielsweise die gängigen Markt-/Mediastudien notwendigerweise stets Vergangenheitsbetrachtungen. Einige lassen sich aufgrund ihrer Erhebungsfrequenz trotzdem sehr gut nutzen (z. B. AGOF digital daily facts). Andere Quellen, insbesondere diejenigen, die übergreifende Mediennutzung abbilden (z. B. best4planning), scheiden aktuell aus.
Digitale Kanäle profitieren, werden aber zu stark gewichtet
Und obwohl die digitalen Kanäle deutlich mehr Möglichkeiten zu kurzfristigen Analysen bereitstellen, wollen wir nicht in die typische Falle tappen, einen unverhältnismäßigen Fokus auf „Digital“ zu legen bzw. eine pauschale Empfehlung in diese Richtung aussprechen – dieses Problem war in den letzten zehn Jahren ohnehin schon präsent genug. Nur weil etwas leichter messbar ist, muss es nicht zwangsläufig wichtiger sein als die Dinge, die sich deutlich schwerer quantifizieren lassen: TKP/Reichweite vs. Umfeldqualität als ein typisches Beispiel – Werbewirkung einmal ganz ausgenommen. Dass die digitalen Kanäle gerade besonders profitieren, ist klar. Aber die Klammer „Digital“ ist breit und diese Aussage gilt nicht für alle Plattformen (und Zielgruppen!) in gleichem Maße.
Was können wir also in dieser Situation tun? Die kurze Antwort lautet: Wir müssen improvisieren. Das bedeutet konkret, dass wir uns dynamischer und „untypischer“ Analysen bedienen müssen, um so schnellstmöglich wesentliche Insights bereit zu stellen, die sowohl unseren Kunden als auch uns Orientierung geben können. Dazu gehören selbstverständlich die eingangs genannten Umfragen zur Veränderung der Mediennutzung durch Corona. Diese liefern uns einen ersten Überblick, gehen aber nicht ins Detail.
Welche Möglichkeiten zur Datenerhebung existieren außerhalb von Umfragen?
Im Folgenden soll es daher vor allem um jene Möglichkeiten gehen, die sich auch außerhalb von Custom Befragungen nutzen lassen. Dabei sollte uns bewusst sein, dass wir derzeit immer nur ein unvollständiges Bild zeichnen können. Unsere Analysen stellen damit immer nur Teilbetrachtungen einer hochdynamischen Situation dar, die wir mit planerischer Erfahrung und gesundem Menschenverstand in den Kontext setzen müssen. Denn nicht jeder Aspekt einer sich verändernden Mediennutzung ist auch im werblichen Sinne interessant. Und derzeit gibt es ohnehin bereits ein sehr hohes Noise-Level an Meinungen und Einzelanalysen.
Um ein Beispiel zu geben: Selbstverständlich werden Netflix, Amazon Prime und Co. aktuell so stark genutzt wie nie zuvor. Disney+ ist von einem Moment auf den anderen auf Position eins der AppStore-Charts eingestiegen. Aber versuchen Sie nun einmal, kurzfristig ein Product Placement in einem der proprietären Formate dieser Plattformen zu platzieren.
Mit TV zurück ans Lagerfeuer
Dass die TV-Nutzung insgesamt deutlich zugelegt hat, ist schon fast ein Allgemeinposten und wurde von meinen Kollegen bereits in einem Gastartikel ausführlich thematisiert.
An dieser Stelle sollen noch einmal zwei Punkte besonders hervorgehoben werden:
- Die Nachrichtenformate der öffentlich-rechtlichen Sender profitieren aktuell besonders vom Informationsbedürfnis in der Bevölkerung. „Tagesschau“ und „heute“ gewinnen deutlich stärker an Reichweite als beispielsweise „RTL aktuell“ (diese Erkenntnis ist weiter unten noch einmal wichtig).
Schaubild: Reichweitenentwicklung von Nachrichtenformaten, März 2020
2. Der Reichweitenzuwachs bei TV ist über alle Zielgruppen hinweg zu beobachten. Nicht nur schauen die besonders TV-affinen (also älteren) Zielgruppen noch mehr fern, auch jüngere Zielgruppen nutzen das Medium (wieder) vermehrt und auch intensiver:
Schaubild: Reichweitenentwicklung von TV-Werbeblöcken, März 2020
Dieses starke Reichweitenplus ist nicht nur durch Programme bedingt, die in den Bereich „Information“ fallen. Auch Entertainment-Formate profitieren vom gestiegenen Bedürfnis nach Zerstreuung. Interessant dabei ist, dass Formate, die „Corona“ und „Entertainment“ gleichzeitig bedienen, überhaupt nicht funktionieren: Die Reichweiten sind hier durchgängig enttäuschend, ersten Formate werden bereits nach kürzester Zeit abgesetzt.
Zerstreuung? Ein Blick ins Digitale
Neben TV sehen wir auch im Bereich Online-Bewegtbild deutliche Reichweitensteigerungen. Aufgrund der besonderen Reichweite der Plattform sowie der guten Auswertungsmöglichkeiten wollen wir uns an dieser Stelle auf YouTube konzentrieren.
Interessanterweise ist zu beobachten, dass die zielgruppen-übergreifende Dynamik von TV sich hier nicht im selben Maße fortsetzt. Auf YouTube entsteht der Reichweitenzuwachs vor allem in den jüngeren Demografien, die ohnehin den Löwenanteil der Nutzerschaft ausmachen. Was allerdings zunimmt, ist die Nutzungsintensität: Auch sind hier neben Informations- vor allem Unterhaltungsformate die Treiber.
Schaubild: Inventarverfügbarkeiten auf YouTube, März 2020
Entsprechend profitiert YouTube in Summe also dennoch sehr deutlich. Die Konsequenz dieser Entwicklung findet sich aktuell auch bei allen TrueView Kampagnen, die sowohl vor als auch nach Verschärfung der Maßnahmen liefen. Hier konnte insgesamt eine deutliche Verbesserung der Wirtschaftlichkeit (im Sinne des Cost-per-View) erzielt werden.
Eine Frage drängt sich auf: Wenn wir von verändertem Medienkonsum sprechen, meinen wir damit nur die jüngeren Demografien? Steigt bei den Zielgruppen 50+ nur die TV-Nutzung und alles andere bleibt wie gehabt? Achtung Spoiler: Das scheint tendenziell unwahrscheinlich.
Wie wenig aussagekräftig die generalisierende Aussage „Digital wird verstärkt genutzt“ ist, zeigt ein simpler Vergleich: Der Traffic auf kicker.de befindet sich seit knapp drei Wochen im Sinkflug. Auf der anderen Seite gewinnen Umfelder, die in der aktuellen Situation entweder Hilfestellung oder Abwechslung bieten. So erfreuen sich zum Beispiel twitch.tv und insbesondere chefkoch.de an Höhenflügen bei den Visits.
Schaubild: Mediennutzung kicker, Chefkoch und Twitch, Quelle: AGOF Digital Daily Facts, März 2020
Print – Was man nicht verpixeln kann, darüber muss man schweigen?
Im Bereich Print verlassen wir teilweise das Feld der (kurzfristig verfügbaren) Daten und müssen ein Stück weit in die Thesenbildung wechseln. Mit Blick auf klar ausweisbare TV Reichweitenzuwächse bei den qualitativen Nachrichtenformaten, erscheint es plausibel, dass auch die Tageszeitungen von der gegenwärtigen Situation profitieren werden. Denn das Bedürfnis nach verlässlicher Information und Orientierung ist in Krisenzeiten besonders ausgeprägt. Da außerdem weder der Supermarkt noch die Tankstelle nebenan geschlossen sind, gibt es auch auf der Bezugsseite keine wesentliche Beeinträchtigung – die Printvermarkter haben hier gut reagiert und die entfallende Distribution an Bahnhöfen und Flughäfen in den krisenfesten Einzelhandel umgelagert.
Erste Auswertungen, welche in den letzten Tagen von Vermarktern zu gestiegenen Nutzungszahlen inklusive Abonnements veröffentlicht wurden, erscheinen in diesem Kontext durchaus nachvollziehbar. So findet bei den Konsumenten während der Krise eine Rückbesinnung statt. Durch die Notwendigkeit des Zuhausebleibens wird der Alltag bewusster gelebt, man beschäftigt sich stärker mit Hobbys, geht Handwerkarbeiten nach, schneidert, musiziert und bedient sich Print als idealem Begleitmedium.
In Summe führt uns das zu dem Schluss, dass gegenwärtig ein sehr guter Zeitpunkt für (zusätzliche) Werbung in Print-Qualitätstiteln ist.
Spannend ist dabei auch der Ansatz von Gruner + Jahr, die Menschen in der Krise für das eigene E-Paper zu begeistern. Die grundsätzliche Bereitschaft scheint vorhanden: Immerhin jeder Fünfte ist nun dazu bereit, ein digitales Abonnement oder ein E-Paper zu erwerben. Man darf also gespannt sein, ob sich dieses Angebot langfristig auf die E-Paper Reichweite der Titel auswirkt.*
Schaubild: Bereitschaft zum Erwerb digitaler Abonnements, März 2020, Civey
Audio ist Audio ist Audio. Oder?
Auch beim Radio sind wir vor allem auf den direkten Input der Vermarktungspartner angewiesen, die sehr deutliche Zuwächse dokumentieren: Werte in der Größenordnung von „plus 30 % Reichweite“ werden vermeldet. Das exakte Ausmaß gilt es noch zu verifizieren, die Tendenz erscheint aber nachvollziehbar. Besonders interessant ist dabei, dass diese Reichweitenzuwächse nicht nur die Nutzung durch „klassische“ Endgeräte, sondern auch das digitale Streaming der etablierten Sender betreffen sollen.
Dies führt uns zurück zur oben geäußerten These, dass die Auswirkungen auf den Medienkonsum differenziert und zielgruppenspezifisch betrachtet werden müssen. Denn obwohl die Nutzungsintensität etablierter Radiosender sehr wahrscheinlich deutlich zunimmt – analog wie digital – ist im Gegenzug keine entsprechende Tendenz bei Spotify als zentralem Player für das Audiostreaming zu erkennen:
Schaubild: Reichweitenentwicklung Spotify, März 2020, Quelle: spotifycharts.com/regional/de/daily
Zwar wurden hier nur Spotify-eigene Zahlen zur Streaming-Häufigkeit der Top 200 Titel herangezogen, interessant ist aber insbesondere der direkte Ländervergleich mit Italien. Anders als die „etablierten“ Radiosender scheint die Nutzung von dieser Art des Audiostreamings sehr viel stärker vom (mobilen) Alltag und der Nutzerschaft abhängig zu sein. Am Beispiel Italien zeigt sich sehr deutlich, wie sich bei einem generellen Negativtrend die typischen Ausschläge nach Wochentag im Zuge der Krise nivelliert haben.
Eine Anmerkung zum Schluss
Auch wenn es natürlich noch sehr viel mehr Medien und Quellen gäbe, die es zu betrachten lohnt, soll dies zunächst genügen. Wie anfangs erwähnt, ist hier nicht Vollständigkeit das Ziel, sondern die Notwendigkeit, auch in einer dynamischen Zeit einen differenzierten Blick auf vorhandene Daten werfen zu können.
Abschließend deshalb der Hinweis, dass dieser Artikel Anfang April 2020 finalisiert und veröffentlicht wurde. Ich hoffe sehr, dass es sich hier um einen Text handelt, der – von seiner Kernüberlegung einmal abgesehen – möglichst schnell seine Relevanz verliert. Sowohl was die gezeigten Entwicklungen der Medien als auch das Jonglieren mit untypischen Quellen betrifft. Denn das würde heißen, dass der normale Alltag zurückgekehrt ist und sämtliche Zielgruppen wieder mehr Zeit außerhalb der eigenen Wände verbringen können. In diesem Sinne: Bleiben Sie gesund!
Autor: Peter Steffens, Director Strategy, Data & Tech / OMD Düsseldorf, 03.04.2020
Quellen:
*Gruner + Jahr E-Paper Aktion: https://aktion.grunerundjahr.de/deutschland-bleibt-zuhause
Bildquelle Headerbild: http://www.kilianschoenberger.de/