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Die Drei von der Denkstelle #3: Wider den falschen Propheten

Aktuell werden wir regelrecht von Prognosen jedweder Couleur, wie sich die Welt durch das Coronavirus verändern wird, überschüttet. Je nachdem, wem man gerade sein Gehör schenkt, ist in sechs Monaten die Welt entweder untergegangen oder hat sich in einen Garten Eden verwandelt. Und natürlich gibt es auch noch – wie meistens – die schweigende Mehrheit, der das ganze Bohei ein wenig suspekt erscheint, die sich in vornehmer Zurückhaltung übt und ansonsten denkt „et kütt, wie et kütt“ (aus dem Rheinischen Grundgesetz: „Es ist, wie es ist.“).

Let's Make Lemonade - Die Drei von der Denkstelle

Abbildung: Die Autoren Christian Franzen, Elmar Klemm und Frank Händler im Homeoffice (Bildquelle: OMD)

Vorhersagen: (nicht) machbar

Vorhersagen, wie sich ein bestimmter Sachverhalt (z. B. Absatzzahlen, Börsenkurse) in der Zukunft entwickelt, sind mit entsprechender empirischer Basis (vergangene Absatzzahlen …) und unter Zuhilfenahme eines Vorhersagemodells ein schwieriges Unterfangen, das viel Expertise erfordert. Aber sie sind machbar.

Vorhersagen, wie sich ein ganzes Sozialsystem, oder noch schlimmer, wie sich die Welt verändern wird, ohne die geringste empirische Basis, weil wir uns gerade – gelinde gesagt – in einer Disruption befinden, sind hingegen unmöglich. Oder, etwas deutlicher formuliert: Solche Vorhersagen sind Unsinn, unseriös, ein Unding.

Trotz der Unmöglichkeit hier einige Überlegungen und Ansätze, wie denn solche Vorhersagen grundsätzlich aussehen müssten, damit sie wenigstens den Anschein von Seriosität erwecken.

Empirische Basis der Kondensationskeime künftiger Entwicklungen

Häufig basieren Annahmen über Entwicklungen in der Zukunft auf Beobachtungen in der Gegenwart, die man dann in die Zukunft projiziert. Der Nukleus dieser Annahmen sind also die Beobachtungen in der Gegenwart. Wenn dem so ist, dann macht es natürlich Sinn, dass diese Beobachtungen auch belastbar sind. Dies soll heißen, dass sie eine verlässliche und ausbalancierte empirische Basis haben. „Stichprobe n=1“-Beobachtungen, journalistische Beiträge, redaktionelle Kommentare usw. sind dazu eher weniger geeignet. Schauen wir uns mal ein Beispiel an. Der Zukunftsforscher Gatterer meint:

„Die Welt wird friedlicher sein. Weil wir so lange auf soziale Nähe verzichten müssen, genießen wir sie nach Corona wieder in vollen Zügen. Die Gemeinschaft ist uns wichtiger denn je.“ 1

Woher hat Gatterer die Erkenntnis, dass wir auf soziale Nähe verzichten? Zuhause zu sein, heißt ja nicht Vereinsamung. Denn man verbringt auf einmal viel mehr Zeit mit seinem Partner/seiner Partnerin, den Kindern und anderen Haushaltsmitgliedern. Also – ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, seit Sie im Homeoffice sind, aber: Ich habe seit Jahren nicht mehr so viel telefoniert, an Telcos teilgenommen, Videokonferenzen gehalten, Mails und Chats auf Teams, Jabber, WebEx oder Outlook jongliert. Dies ist natürlich ebenfalls eine Einzelbeobachtung. Wenn wir uns aber beispielsweise die Ergebnisse des YouGov Corona-Trackers anschauen, dann sehen wir, dass ein deutlicher Anteil der Befragten nun mehr Facebook, Instagram und YouTube nutzt. Es ist also keine Rede davon, dass wir auf „soziale Nähe“ verzichten. Wir verzichten auf „physische Nähe“, auf „soziale Nähe“ aber eher nicht.

Ein anderes Beispiel. Der renommierte Zukunftsforscher Opaschowski schreibt:

Für die nahe Zukunft zeichnet sich ein Bild der Selbsthilfegesellschaft ab. … Jetzt bildet sich eine Selbsthilfegesellschaft aus der Einsicht, aufeinander angewiesen zu sein. … Die spontane Hilfsbereitschaft, die Übernahme sozialer Verantwortung und vielleicht kehrt endlich wieder mehr menschliche Wärme ein.2

Herrn Opaschowski ist also aufgefallen, dass es in unserer Gesellschaft einen signifikanten Anteil an sozial orientierten Menschen gibt, die sich Sorgen um ihre Mitmenschen machen und im Zweifelsfall auch bereit sind, mit Rat und vor allem Tat zur Seite zu stehen. Aber sind das jetzt mehr als vor der Krise? Sind das nicht dieselben, die sich 2015 aufopferungsvoll um die Flüchtlinge gekümmert haben? Wenn das so wäre, wäre das also keine neue Qualität.

Soziale Rücksichtnahme, Empathie und Kooperationsbereitschaft schon immer stark ausgeprägt

Laut der Studie „Best For Planning / B4P 2019 III“ punkten 51 % der Deutschen auf dem Big 5-Item „Verträglichkeit“ (soziale Rücksichtnahme, Empathie, Kooperationsbereitschaft) „hoch“ oder „eher hoch“ – und das auch schon vor der Corona-Krise. Wenn wir jetzt also beobachten, dass sich viele unserer Mitmenschen um ihre älteren Nachbarn kümmern, gibt uns das Anlass zur Vermutung, es könnten mehr geworden sein? Nein! Genau diese 51 % zeigen uns jetzt, was in ihnen steckt. Und wir wollen nicht die 22 % unserer Mitbürger vergessen, die im YouGov Corona-Tracker auf die Frage, „ob sie gehamstert haben“ mit „Ja“ geantwortet haben: „Hauptsache mein Arsch ist sauber. Scheiß auf die Nachbarn!“

Opaschowski meinte in seinem Artikel zur Corona-Krise weiter:

„In Krisenzeiten denkt jeder zunächst an sich selbst. Gleichzeitig macht es erwiesenermaßen glücklich, für andere da, also solidarisch zu sein. Der Solitär wird gewissermaßen zum “Solidär” … Ich spreche von einem starken Ich in einem starken Wir. Das Ich im Wir ist das Besondere – es spricht für starkes Selbstvertrauen, das man aber erst im Wir verwirklicht. Die Zeiten der Alphatiere werden nach dieser Krise endgültig vorbei sein.“

Das „Ich im Wir“, „starkes Selbstvertrauen“, das sich „im Wir verwirklicht“. Aha, das klingt erst einmal ein bisschen paradox. Und genau das ist wieder ein Stilmittel, um empirische Beobachtungen, die nicht in das gewünschte Muster passen, durch offensive, dialektische Inklusion vor ihrem Demaskierungspotenzial zu immunisieren. Auch Herr Horx beherrscht dieses Stilmittel sehr sicher, wenn er z. B. schreibt:

„Die kommende Welt wird Distanz wieder schätzen – und gerade dadurch Verbundenheit qualitativer gestalten. … Dadurch kann die Welt komplexer, zugleich aber auch stabiler werden. … Zukunftsfähig ist das, was die Paradoxien auf einer neuen Ebene verbindet.“ 3

Die Welt ist mannigfaltig

Die Tatsache einer vielfältigen Welt ist sozusagen „unser tägliches Brot“. Wären alle Menschen gleich, wäre die Welt langweilig und das Leben eines Marketers einfach: Alle kaufen meinen Joghurt, alle wollen meine Autos fahren. Das mit der Langeweile ist – Gott sei Dank – nicht so. Menschen sind unterschiedlich. Deshalb arbeiten wir mit Zielgruppen. Die Personen in der Zielgruppe sind empfänglicher für meine Botschaft, als die Personen außerhalb der Zielgruppe. Die Personen in der Zielgruppe kaufen mein Produkt eher, als die anderen usw. Diversität ist unser Credo und jeder Blick in eine beliebige Studie bekräftigt uns darin.

Menschen können beispielsweise in fünf grundlegende Persönlichkeitsdimensionen unterteilt werden: die bereits oben erwähnten „Big 5“. Diese Dimensionen sind Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus.

Let's Make Lemonade: Die Drei von der Denkstelle 3 - Big 5

Abbildung: Fünf Persönlichkeitsdimensionen von Menschen (Quelle: B4P 2019 III)

Wenn nun ein Prophet behauptet, dass durch die Corona-Erfahrung das gesellschaftliche Miteinander gewinnt (Gatterer) –

„Wir werden mehr solidarisch und weniger materialistisch sein. Das Wichtigste das hat uns die Corona-Krise gelehrt sind unsere Liebsten, die Gesundheit und die Gemeinschaft.“ 1

so sagt er eigentlich, dass auf der Persönlichkeitsdimension Verträglichkeit sich die Ausprägung „hoch“ von 51 % zu 100 % entwickelt hat. Wie wahrscheinlich ist so eine Entwicklung? Sehr unwahrscheinlich! Wir haben eben gesehen, Ausprägungen von Merkmalen sind immer mannigfaltig, die Welt ist divers und nicht monoton. Unsere existierende Gesellschaft ist immer eine Mischung von unterschiedlichen Ausprägungen von Merkmalen. Es gibt nicht ein „one fits all“. Das gibt es nur in den simplifizierenden Vorstellungen der „falschen Propheten“.

Im Zweifelsfall für Konstanz

Es existiert noch ein weiterer Aspekt, der am oben genannten Big 5-Beispiel zu bedenken ist: Die Big 5 sind recht stabile Persönlichkeitsmerkmale. Es gibt Quellen, die behaupten, dass ungefähr 50 % der Ausprägungen der Big 5 genetisch bedingt sind. Wenn 51 % der Bevölkerung sozial orientiert sind und die restlichen 49 % mit Ellbogen geboren worden sind, ist hier nicht einfach gegen anzukommen. Vorprägungen sprechen da offensichtlich ein gewichtiges Wörtchen mit.

Nun könnte man entgegnen: „Ja, aber die Krise…“. Aber wird nicht jede Krise (Stimulus) von jedem Charaktertyp eventuell ganz unterschiedlich verarbeitet? Warum sollte ausgerechnet die Corona-Krise den Saulus zum Paulus wandeln? Ein Mensch macht im Laufe seines Lebens viele Krisen durch, welche, da sie nicht kollektiv, sondern individuell sind, allesamt viel existenzieller sein können als Corona: die erste Kündigung, eine Insolvenz, eine Scheidung, der Tod der Eltern, Krankheit, ein Herzinfarkt, usw. Jeder dieser Schicksalsschläge hat das Potenzial einen Menschen vollständig aus der Bahn zu werfen. Doch, wie häufig passiert es tatsächlich? Wie häufig wandeln wir uns also vom Saulus zum Paulus?

Und wenn wir uns tatsächlich vorgenommen haben, wirklich etwas an unserem Leben zu ändern, wie lange hält das vor? Die Annahme, dass wir in unseren Charaktereigenschaften sehr stabil sind, ist jedenfalls sehr viel wahrscheinlicher als die Annahme, dass irgendetwas – sei es auch noch so gewaltig – schon morgen die Welt auf den Kopf stellt. Es steht fest: Corona wird Wölfe nicht in fromme Lämmchen wandeln. Obwohl dies, zumindest für einige von uns, ein verführerischer Gedanke ist, bleibt es das, was es ist – nämlich ein Märchen.

Wie wird also die Zeit nach Corona aussehen?

Lassen Sie uns mit zwei Zitaten enden. Opaschowski meinte rückblickend zum Veränderungspotenzial von Krisen:

„Ich habe die Ölkrise, Tschernobyl, den Golfkrieg 1991 und die Anschläge vom 11. September erlebt. Immer hieß es: Nichts wird mehr so sein, wie es war. Aber das hat nie gestimmt.“ 4

In dasselbe Horn bläst Grünewald:

„Ich glaube … nicht an ein komplettes Umdenken der Menschen, etwa an einen Ausstieg aus der Globalisierung … Aber es wird kleine Veränderungen geben, weil wir in der Krise Alternativen kennengelernt haben, weil wir neue Erfahrungen gemacht und ungewohnte Wege gegangen sind.“ 5

Autoren:

Elmar Klemm, Managing Partner Insights / Annalect
Frank Händler, Managing Partner Insights / Annalect
Christian Franzen, Managing Director / OMD Düsseldorf

22.04.2020